Vertrauen und Wissen
Mit Ausnahme einiger weniger wohlhabende Personen, die sich auf der Burg von Bauern versorgen liessen, verstand in Agrargesellschaften vor der Industrialisierung wohl jeder wo das Essen auf dem Teller, der Brennstoff für die eigene Lampe oder der Stoff für das eigene Hemd hergekommen ist. Es herrschte zwar wenig Wissen über die breiteren Zusammenhänge der Physik, des menschlichen Körpers oder der Geografie. Aber das eigene – meist materiell nach heutigem Standard karge – Alltagsleben wurde verstanden.
Dieses Verhältnis hat sich heute umgekehrt. Heute verstehen wohl nur einige über welche Wege, Essen, Energie und Konsumgüter an sie gelangen.
Das liegt daran, dass die Industrialisierung, Technisierung und Globalisierungder vergangenen 200-250 Jahre dazu geführt hat, dass die Organisation menschlicher Existenz unglaublich komplex geworden ist. Von der Energie-, Rohstoff und Stromversorgung angefangen, über die Wertschöpfungskette für Nahrungsmittel, Kleidung, Konsum- und Gesundheitsgütern oder die Aufrechterhaltung von Mobilität – dem täglichen Konsum des Individuums ist ein komplexes Netzwerk an Entscheidungen, Produktionsstätten und Wertschöpfungsketten vorgeschaltet.
Auch auf der Meta-Ebene, der „Organisation der Organisation“ wirtschaftlicher Versorgung, der Finanzwirtschaft, der Politik und Verwaltung, der internationalen Steuerung oder Unternehmensstrategien herrscht ein für Einzelne praktisch unüberschaubarer Komplexitätsgrad.
Diese Umkehrung der Wissensverhältnisse über Grundlagen des alltäglichen Lebens ist eine nicht zu unterschätzende Entwicklung. Und dabei meine ich nicht die marx’sche Entfremdung zwischen Arbeiter und Produkt.
Das Internet suggeriert uns eine völlige Informationstransparenz und Nähe zu Wissen. Tatsächlich aber greift es aber nicht ein individuelles Wissen, dass der modernen Komplexität gerecht wird, sondern schafft Erwartungen und Verhaltensweisen, die die Entfernung zwischen den Grundlagen gesellschaftlicher Ordnung und Versorgung einerseits und individuellen Konsumenten andererseits vergrössern.
Diese Entwicklung führt immer wieder zu Ängsten über einen Verlust von Autonomie über unser Dasein – eine Autonomie, die wir ohnehin niemals hatten und deren Wunsch sich im Konsum kontrollierter Bioeier ebenso äussert wie der Wunsch nach günstigen (aber zugleich grünem) Strom.
Besorgniserregend ist diese Entfremdung vor allem auch, weil sie auch droht eine neue Klassengesellschaft zu schaffen - zwischen den Experten, die komplexe Netzwerke verstehen aufrechterhalten und denjenigen, die sie primär konsumieren, aber womöglich nicht verstehen. Diese beiden Gruppen leben zunehmend in völlig unterschiedlichen Welten. Die einen halten Globalisierung für ein Übel, das es einzuschränken gilt. Die anderen studieren, arbeiten, leben und heiraten bereits global. Die einen sind zunehmend bis zur Irrationalität skeptisch gegenüber neuen Formen von Technologie, unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Nutzen. Die anderen hinterfragen Neues überhaupt nicht mehr. Die einen misstrauen zunehmend jeder Aussage darüber, wie die moderne Welt aufgebaut ist. Die anderen können die Welt nicht mehr erklären, weil ihre Komplexität für sie selbstverständlich geworden ist.
Diesen Graben überhaupt einmal zu erkennen, zu artikulieren und – mit etwas optimistisch – ihm auch Lösungsversuch entgegenzubringen – wäre Aufgabe der einer ehrlichen und erklärenden Politik. Stattdessen scheint es einem manchmal, dass sie sich auf der einen oder anderen Seite des Grabens wähnt.
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