Kann man den Liberalismus neu erklären?

Der Liberalismus hat ein Problem, weil er regelmässig missverstanden wird. Er muss sich neu erklären. Ich habe versucht einige Gedanken aufzuschreiben, was für mich der Begriff liberal beinhaltet. Damit meine ich nicht ein bestimmtes politisches Programm oder eine Partei, sondern liberales Gedankengut allgemein, das zu unterschiedlichen Graden je nach politischer Richtung mal mehr, mal weniger (zunehmend weniger, wie ich befürchte) auch in der Parteipolitik vorhanden sein kann.
 
Liberalismus lehnt monolithisches Gesellschaftsdenken ab

Liberalität hat ein dezidiert vorurteilsfreies Staats- und Gesellschaftsbild. Für Liberale ist der Staat ist nicht ein Deus Ex Machina, sondern ein Netzwerk an Institutionen mit einer gesellschaftlichen Schutz- und Steuerungsfunktion.  Auch ist eine Gesellschaft kein monolithisches Artefakt mit einem klaren Willen, der stets zwischen richtig und falsch unterscheiden kann, sondern ist von einer viel fluideren Gestalt, in der die Interessen  von Menschen regelmässig neu aufeinandertreffen, Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Mehrheits-, Konsens- und Schnittmengen finden.

 

Liberalismus sucht nach breiter gesellschaftlicher Beteiligung

Ebenfalls wird Liberalismus missverstanden, wenn ihm vorgeworfen wird, den"Markt der Interessen", den unsere Gesellschaft abbildet, als rein positivistisch zu betrachten. Interessen sind natürlich ein Amalgam aus individuellen und kollektiven Träumen und Wünschen, Sozialisierungen, Sorgen, Kalkulationen. Es gibt aber nicht "das Volkswohl", sondern eine Vielzahl an Meinungen. Wichtig ist, möglichst viele von diesen Interessen Gehör zu verschaffen und zu respektieren. Wahrer Liberalismus, der sich für einen Markt der Interessen einsetzt, muss sich daher auch dafür einsetzen, dass im politischen Entscheidungsprozess Transparenz herrscht und organisatorischen Sonderinteressen mit Arbitragecharakter vorgebeugt wird - seien sie von Unternehmen, Parteien, Gewerkschaften oder Verbänden. Dies macht es nicht immer einfach, Liberalismus im politischen Wettbewerb Sichtbarkeit zu geben, denn liberal zu sein und zu denken ist oftmals ein  Bekenntnis zur Fairness eines Entscheidungsprozesses, als der Wunsch nach einem ganz bestimmten Ausgang dieser Entscheidung. Aus diesen Gründen ist das Prinzip der Toleranz das stärkste Charakteristikum für Liberale. Toleranz für gesellschaftliche Unterschiede und individuelle Entscheidungen..

  

Liberalismus ist eine normative Angelegenheit

Liberalismus ist auch - und dies mag nur auf den ersten Blick erstaunen - zutiefst normativ, man mag heute auch ruhig sagen religiös. Denn Grundlage all der oben ausgführten Punkte ist, dass man an den freien Willen des Einzelnen glaubt. Angesichts des wissenschaftlichen Fragen der Neurowissenschaften oder den Kalkulationen individueller Handlungswahrscheinlichkeiten auf der Grundlage von Big Data, die allesamt den freien Willen auch philosophisch in Frage stellen, kommt im 21. Jahrhundert dem freien Willen ein viel stärkerer normativer Charakter zu. In diesem Kern mischen sich nun was man liberal oder aufgrund der geistigen Entstehungsgeschichte auch christlich oder europäisch nennen kann: Der Glaube an den freien Willen des Menschen und der grundsätzliche Respekt vor den Konsequenzen dieses Willens. Doch auch für Liberale ist meist klar, dass es Sachzwänge gibt, welche die Ausübung des freien Willens hindern können. Deswegen ist der Begriff der Chancengerechtigkeit so zentral - Menschen sollten in der Ausübung ihres Willens über ein Leben lang, sollte nicht durch erhebliche Armut oder einen Mangel an Ressourcen wie Bildung oder Technologie zu sehr unterschiedlich beeinträchtigt werden.
 
Liberalismus ist Wettbewerb und Transparenz, nicht konzentrierte Wirtschaftsmacht

Liberalismus glaubt an das Prinzip des Marktes, in der Wirtschaft, wie in der Gesellschaft. Markt bedeutet fairer und transparenter Wettbewerb. In einem vollkommenen Markt, in dem es transparent zugeht gibt es - zumindest in der Theorie und solange niemand auf neue Ideen für Produkte oder Technologie kommt - keine Gewinne für Unternehmen. Wahrer Liberalismus unterscheided aber auch klar zwischen Markt und Monopol. Monopole sollten nur temporär bestehen, als Anreiz um Innovationen zu entwickeln und die Produktivität einer Wirtschaft durch neue Technologien zu verbessern. In bestimmten Fällen, machen staatliche Monopole ebenfalls Sinn, wenn Marktwettbewerb langfristig öffentliche Aufgaben schlechter erfüllen würde als staatliche Direktion. Weil Technologie sich wandelt, sollte eine Gesellschaft regelmässig prüfen, ob ihre bestehenden staatliche Monopole, Monopolanreizsysteme für den Markt, wie auch Marktwettbewerbsräume so weiterhin für relevante Ziele ausgelegt sind, oder ob sie verkrustete Strukturen geschaffen haben, innerhalb derer nicht mehr zu rechtfertigende Privilegien herrschen.

 
Liberalismus ist kritisch gegenüber Privilegien 

Und damit ist auch die wirtschaftspolitische Aufgabe für den Liberalismus klar: Es geht um den Abbau unzeitgemässer Privilegien und eine Sicht der Gesellschaft, in der diese Privilegien explizit benannt werden. So stellt sich zum Beispiel die Frage, ob Privilegien des Arbeitsschutzes  zielmässig ausgerichtet sind, wenn sie aus einer Zeit stammen, in dem man ein Leben lang bei einer Firma beschäftigt war oder ob sie eher bestimmte Kohorten an Arbeitnehmern gegenüber anderen bevorteilen. Der Reflex des Liberalismus hier ist es, zunächst den Weiterbestand solcher Privilegien in Frage zu stellen, anstatt automatisch nach dessen Ausweitung zu rufen. Aber nicht, um den Profit eines Unternehmens zu mehren, sondern um Chancengerechtigkeit herzustellen. Genauso stellen sich aber Fragen um staatliche Subventionen für Industriezweige, die womöglich heute nicht mehr zu rechtfertigen sind.

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